Samstag 18. November. In einer Kirche in South Kensington versammeln sich mehrere hundert Menschen. Menschen aus ganz Europa. Von Norwegen bis Italien, von Nord-Irland bis Russland. Menschen aus unterschiedlichsten Konfessionen und Denominationen. Von anglikanisch bis katholisch, von landeskirchlich bis freikirchlich.
Sie alle sind zur jährlichen „Run Alpha“ Konferenz gekommen. Eine Konferenz die den wohl bekanntesten und am weitesten verbreiteten Glaubenskurs der westlichen Christenheit zum Thema hat: Den Alpha-Kurs. Hier in Holy Trinity Brompton (HTB – mit 4000 Gottesdienstbesuchern an einem durchschnittlichen Sonntag die größte Gemeinde der Church of England) erfunden, hat sich der Alphakurs in den letzten Jahrzehnten zum wohl bekanntesten Werkzeug für Evangelisierung und Verbreitung des christlichen Glaubens im immer stärker säkularisierten Westen entwickelt. Gibt es inzwischen eine Fülle weiterer Glaubenskurse, so ist der Alphakurs doch wohl der, den man am ehesten kennt und der wahrscheinlich über alle konfessionellen Grenzen hinweg am meisten eingesetzt wird.
Hohe Erwartungen
Dementsprechend hoch sind auch die Erwartungen der Konferenzbesucher. Manche sind neu im Feld der Glaubenskurse. Sie erhoffen sich ein Werkzeug kennen zu lernen, dass die wohl quälendste Frage der westlichen Kirchen löst: „Wie werden Menschen heute noch zu Nachfolgern Jesu Christi?“ Andere sind schon erfahrene Ausrichter des Alpha-Kurses. Sie erwarten vor allem hilfreiche Tipps für die noch bessere Umsetzung. Und dann sind da noch die Alten Hasen. Sie kommen um sich zu vernetzten und zu hören was es Neues gibt.
Der Alpha-Kurs und Gemeindegründung
Ich (Alex) bin in meiner Rolle als Doktorand, als Forschender im Bereich Gemeindegründung da. Und auch hier spielt Alpha eine wichtige Rolle. Nicht nur ist HTB ein wichtiger – wenn nicht gar der größte – Motor für Gemeindegründung innerhalb der Church of England. Allein das wäre wohl schon Grund genug sich mit dem wichtigsten „Markenprodukt“ der HTB Familie, dem Alpha-Kurs auseinanderzusetzen. Nun wird aber zusätzlich der Alpha-Kurs von HTB als wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste „tool“ beschrieben, um mit den spezifischen Herausforderungen umzugehen, denen sich jede Gemeindegründung zu stellen hat: „Alpha creates time, Alpha creates new believers, Alpha creates leaders.“
Alpha creates time: Durch seine gute Aufbereitung stelle der Alpha-Kurs laut Alpha UK, eine ressourcenschonende Möglichkeit dar, eine missionarische Gemeindearbeit aufzubauen. Er begegnet damit der Herausforderung, dass viele Gemeindegründungen mit begrenzten finanziellen, personellen, und zeitlichen Ressourcen zu kämpfen haben.
Alpha creates new believers: Der Alpha-Kurs sei angeblich einer der effektivsten Wege Menschen mit dem christlichen Glauben in Berührung zu bringen und entspricht damit dem Ziel der meisten Gemeindegründungen, Kirchenferne einzuladen den christlichen Glauben kennenzulernen. (Laut einer von Alpha in Auftrag gegebenen Studie des US-Umfrage Instituts „the Barna Group“ beschrieben sich 82% der Kursteilnehmer, die sich zuvor als Nichtchristen („non-Christians“) beschrieben hatten, nach dem Kurs als Nachfolger Jesu („followers of Jesus“).)
Alpha creates leaders: Zuletzt wird der Alpha-Kurs als eine Möglichkeit beworben Gemeindeglieder als Mitarbeiter zu schulen und durch die Mitarbeit im Kurs zu Leitern innerhalb der Gemeinde zu entwickeln. Kurz gefasst: Der Alpha-Kurs soll DAS Werkzeug für Gemeindegründer sein. Ist das aber wirklich so? Dazu später mehr.
Zwischen Verkaufsveranstaltung und missionarischer Leidenschaft
Willkommen bei „Run Alpha 17“
Die Konferenz erlebe ich persönlich als durchwachsen. Vielleicht liegt es an meinem forschenden Blick; vielleicht auch an der sprachlich-kulturellen Barriere: Dinge, die man als Deutscher eher nüchtern wahrnimmt oder aufgreift, werden hier mit deutlich mehr Begeisterung geteilt, was sich vor allem in für deutschen Ohren sehr starken Adjektiven ausdrückt (amazing/awesome…).
In manchen Momenten hat die Konferenz ein bißchen die Atmosphäre einer Verkaufs-veranstaltung. Egal welche Frage sich stellt, „Try Alpha“ scheint die einzig richtige Antwort zu sein. Ein Glaubenskurs als eierlegende Wollmilchsau?
So sind es auch nicht die Hauptvorträge, die mich begeistern. Es sind kleine kurze Impulse dazwischen, die hängenbleiben. Der Bericht einer jungen Frau, die durch den Alpha-Kurs den christlichen Glauben kennenlernt und beginnt Jesus Christus nachzufolgen. Es verändert nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres Partners. Alte Kämpfe und Zweifel bleiben und doch wird alles neu.
Ein Junger Mann, 21 Jahre, der mit Hilfe der Alpha-Videomaterials einen Glaubenskurs an seinem Arbeitsplatz durchführt. Seinen Mut mit dieser Idee zu seinem Chef und seinen Arbeitskollegen zu gehen, ohne sich darum zu kümmern, was diese wohl von ihm denken mögen, beindruckt mich nachhaltig.
Hier wird am deutlichsten spürbar was man von den Menschen hinter Alpha lernen kann. Eine missionarische Leidenschaft, das was einen selbst begeistert mit den Menschen zu teilen, mit denen man in Beziehung steht. Und sich darüber zu freuen und es zu feiern, wenn dann noch der göttliche Funke überspringt.
Warum „Try Alpha“ die richtige Antwort ist
Vielleicht liegt darin die größte Stärke im Alpha-Kurs (und in anderen missionarischen Glaubenskursen). Er stellt ein Werkzeug dar, welches die hochkomplexe, uns alle überfordernde Frage, wie in unser westlichen Gesellschaft Evangelisation (das Teilen der frohen Botschaft von und über Jesus Christus) gelingen kann, beantwortet: „Try Alpha.“
Ein Kurs mit 10 Abenden und einem Wochenende. Ein Abendessen, ein Vortrag und eine anschließende Diskussion als Hauptelemente jeder Einheit. Die persönliche Einladung von Freunden, Bekannten und Kollegen, die durch jeden in der Gemeinde erfolgen kann.
So einfach ist es: Der Alpha-Kurs gibt der Frage „Wie teile ich den Glauben an Jesus Christus, der mein Leben so sehr bestimmt und mir Trost, Kraft, Hoffnung und Leidenschaft ist, mit meinen Mitmenschen?“ einen Rahmen: Indem ich ihnen vom Alpha-Kurs erzähle, indem ich sie einlade, indem ich einen sicheren Rahmen anbiete mit Themen die versuchen die großen Fragen des Lebens mit dem christlichen Glauben zu vermitteln, indem ich eine Gemeinschaft von Suchenden, Zweifelnden und Glaubenden ermögliche, die jeden so nimmt wie er kommt; Und doch hofft, dass er am Ende anders wieder geht, als er gekommen ist. Oder sogar bleibt.
Etwas Hochkomplexes mich anscheinend Überforderndes, wird plötzlich möglich, ja sogar relativ einfach. Die Frage, „wie sage ich weiter, was ich selbst empfangen habe?“ bekommt einen Rahmen, eine Struktur, ein Geländer. Das ist die größte Stärke des Alpha-Kurses.
Warum „Try Alpha“ nicht (immer) die richtige Antwort ist
In der Vereinfachung liegt aber gerade auch die unumgängliche Schwäche des Alpha-Kurses (und natürlich auch anderer Glaubenskurse). Denn die Frage „Wie finden Erwachsene zum Glauben?“ ist eben doch eine hochkomplexe überfordernde Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Das zeigt insbesondere die Studie mit eben diesem Titel: So individuell wie jeder Mensch ist, so individuell ist jede Suchbewegung nach Sinn und Bedeutung, so individuell ist jede Glaubensreise und jeder Glaubensweg. Es gibt nicht ein „Schema F“ nach dem Konversion (Entdeckung des/Hinwendung zum/Vergewisserung im (christlichen) Glauben) stattfindet.
Auch zeigt die Studie, dass Glaubenskurse in Konversionsprozessen insbesondere dann eine Rolle spielen, „wenn Menschen erreicht werden, weniger, um sie zu erreichen. (Zimmermann / Schröder: Wie finden Erwachsene zum Glauben?, Aussaat, 2010, 129) Sie helfen Menschen, sich mit dem Glauben auseinander zu setzen, setzen aber zugleich voraus, dass schon eine Beziehung und ein Interesse besteht. Sie setzen voraus, dass Menschen sich einladen lassen. Und: Konversion geschieht eben oft über einen längeren Zeitraum, im Modus eines Prozesses. Eine Hinwendung zum christlichen Glauben kann sich über mehrere Jahre erstrecken. Bei der Greifswalder Konversionsstudie ergab der Median einen Wert von 5,8 Jahren für den Abstand der ersten (neuen) Begegnung der Befragten mit dem Glauben und einer Glaubensveränderung/Konversion. Da stellt sich zu Recht die Frage, ob ein Kursformat von 10 Wochen diesen Prozessen gerecht wird? (Siehe Sabrina Müller’s Post zur HTB-Experience.)
Ist der Alpha-Kurs DAS Werkzeug für Gemeindegründer?
Zwischen den vielen Vorträgen blieb Zeit für Gespräche und Reflexion.
Wie sieht es nun im Bezug auf Gemeindegründung aus? Ist der Alpha-Kurs DAS Werkzeug schlechthin?
Ja und Nein.
Ja, weil das Material wirklich gut aufbereitet ist, und weiterentwickelt wird. Ja, weil man den Kurs sehr einfach und sehr ressourcenschonend umsetzen kann. Ja, weil hier Kernthemen des christlichen Glaubens mit Kernfragen des menschlichen Lebens vermittelt werden. Ja weil der Kurs hilft der Außenorientierung, die jede Gemeindegründung gerne hätte, ein Gerüst zu verleihen. Ja, weil Mitarbeiter zugleich herausgefordert und geschult werden. Ja, weil (alle) Gemeindeglieder aufgefordert werden Menschen einzuladen, mit denen sie in Beziehung stehen.
Nein, weil es noch viele andere Kurse gibt, die im Aufbau und in der theologisch-inhaltlichen Schwerpunktsetzung vielleicht besser zur Zielgruppe und der eigenen Gemeinde passen. Nein, weil die Teilnahme an einem Glaubenskurs zugleich ein gewisses Bildungsniveau und einen bestimmten Zugang zu einer bestimmten Gemeinschaftsform voraussetzt, die automatisch bestimmte Milieus und Bevölkerungssegmente ausschließt. Nein, weil der Alpha-Kurs im Kern ein atraktionales (auf einer „ihr kommt zu uns“-Struktur) Modell ist und automatisch eine missionale („wir gehen zu euch“) Ausrichtung konterkariert.
„Try Alpha?“ – „Try Alpha!“
So ist dann „Try Alpha“ genau die richtige Antwort. Zugleich ist es die Falsche. Sie ist die richtige Antwort für alle Gemeinden, die einen Rahmen suchen für die Frage, „wie können wir unsere Freunde zum christlichen Glauben einladen?“. Sie ist die richtige Antwort für Gemeinden, die von einer Innen- zu einer Außenorientierung gelangen möchten, da der Alpha-Kurs, wenn er in der Mitte des Gemeindelebens und nicht an dessen Rand verankert wird, nicht nur als Glaubens-Kurs fungiert, sondern auch als Werkzeug zum missionarischen Gemeindeaufbau (ein Konzept, welches im Emmaus-Kurs noch deutlich stärker umgesetzt und reflektiert ist).
Schaue ich über den Ärmelkanal in die deutschen Landeskirchen, dann müsste die Antwort wohl ein bestätigendes lautes „Try Alpha!“ oder zumindest „Try Glaubenskurs!“, am Besten aber „Try missionarischer Gemeindeaufbau durch Glaubenskurse!“ sein. Ich würde es mir wünschen, wenn in jeder Ortsgemeinde mindestens einmal im Jahr ein zu den örtlichen Gegebenheiten passender Glaubenskurs durchgeführt wird. Und wenn es nicht nur ein Glaubenskurs wäre, den ein paar wenige engagierte Gemeindeglieder verantworten, sondern der von der ganzen (Kern-)Gemeinde getragen wird. Denn dann kommt das Thema Mission in der Mitte der Gemeinde an.
„Try Alpha“ kann aber auch die falsche Antwort sein. Wenn eine Gemeinde(gründung) schon ein tiefes missionarisches Anliegen hat und Menschen oder Milieus begegnen möchte, die nicht der Mitte der Gesellschaft entspringen, kann der Rückgriff auf ein „standardisiertes Werkzeug“ wie den Alpha-Kurs genau der falsche Weg sein. Er kann verhindern wirklich den Kontext und die Menschen kennen zu lernen, denen man begegnen möchte. Er kann verhindern lang genug „hinzuhören“. Er kann verhindern die wirklichen Fragen, Freuden, Ängste, Sorgen und Nöte der Menschen wahrzunehmen. Und er kann dazu führen, dass Antworten auf Fragen gegeben werden, die niemand stellt. Das ist dann nicht Mission. Das ist Aktionismus.